PSYCHIATRIE IN SACHSEN - DAS JAHR 1990

Basisgruppe Psychiatrie-Betroffene beim Neuen Forum

Am 3. November 1989 gründete sich die Basisgruppe Psychiatrie-Betroffene innerhalb der Bürgerrechtsbewegung Neues Forum (NF). Die seinerzeit wichtigste Bürgerbewegung der DDR war am 10. Oktober 1989 mit dem Gründungsaufruf »Aufruf 89« an die Öffentlichkeit gegangen. Ende 1989 hatte das Neue Forum mehr als 200.000 Unterschriften für den Aufruf gesammelt und ca. 10.000 Mitglieder.

Die Basisgruppe Psychiatrie-Betroffene verfasste verschiedene Informationsblätter (»Programm und Anliegen«, Aufruf »Glasnost auch in der Psychiatrie«) die im INFO-Zentrum des Neues Forums in der Dreilindenstr. 18 und an der Litfaßsäule auf dem Leipziger Karl-Marx-Platz veröffentlicht wurden.
»Wir glaubten, etwas tun zu müssen, etwas erreichen zu können. Einige waren leicht euphorisch. Es wurde sich zusammengesetzt und Forderungen aufgestellt. Diese vervielfältigte einer und klebte sie in der Stadt an Säulen. Es war ja völlig neu, das öffentlich zu machen« (Margit Rauch)
Die Gruppe bestand »aus Betroffenen im engeren Sinne, also gegenwärtig oder früher Behandelten«, suchte aber auch die Zusammenarbeit mit »vertrauenswürdigen, professionellen Mitarbeitern.«

»Glasnost auch in der Psychiatrie«

Das Flugblatt richtete sich an »ehemalige und derzeitige Psycho-Behandelte, Angehörige von Behandelten, noch zu Behandelnde und Behandlungsverweigerer«. Die Verfasser klagten die »Gewalt und Menschenrechtsverletzungen an Psycho-Behandelten, die Tragödie der neuroleptischen Dauerbehandlung« an, sie forderten das sofortige Verbot der Elektroschockbehandlung, Rechtsvertretung bei Zwangsbehandlungen und das Recht auf psychopharmakafreie Behandlung.
Am 30. November 1989 fand im Gemeindesaal der Thomaskirche die Vollversammlung der Basisgruppe statt. Dort wurde ein Programm verabschiedet, das neben psychiatriepolitischen Forderungen, Projekte wie die Publikation von Erfahrungsberichten von Patienten und Personal, die Gründung einer Schizo-Galerie, einer Bibliothek und einer Kabarettgruppe enthielt. 

Aktivitäten der Basisgruppe

Besondere Aufmerksamkeit fand die Veröffentlichung des Gründungsaufrufs (Leipziger Volkszeitung, 15. 01.1990) in der Presse und ein Artikel über ein Treffen der Basisgruppe am 18. Januar in der Karl-Marx-Universität (»Wehrlos in der Mühle der Psychiatrie«, Mitteldeutsche Neueste Nachrichten, 23.1.1990). Darin wurde berichtet, dass auf der Veranstaltung Betroffene ihre Erfahrungen mit Zwangseinweisungen, körperlichen Misshandlungen und Behandlungen mit Elektroschocks geschildert hätten und der Vorwurf des Missbrauchs der Psychiatrie durch die Stasi erhoben wurde. Auch Mediziner hätten sich geäußert und auf die gesellschaftlichen Voraussetzungen für menschliche Zustände in der Psychiatrie verwiesen.
Der Artikel löste eine Debatte aus, bei der sich Vertreter verschiedener Kliniken zu Wort meldeten und sich gegen eine pauschale Verurteilung der Psychiatrie und für Gesprächsangebote aussprachen.
Im Februar 1990 wandten sich Vertreter der Basisgruppe mit einer Eingabe zur Nervenklinik Waldheim an die Staatsanwaltschaft Leipzig und besichtigten am 28. Februar 1990 die Klinik u.a. mit Klaus Weise, Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik Leipzig.
Ein Teil der Mitglieder der Basisgruppe gründete am 18. April 1990 den Psychiatriebetroffenenverein Durchblick e.V.


Quellen:

Archiv Sächsisches Psychiatriemuseum
Archiv Bürgerbewegung Leipzig e.V. 



Margit Rauch über den Psychiatrie-Stammtisch im Cafè Corso und den „Schizofürsten“


Peter Melcher über den „Schizotreff“ im Café Corso und die Basisgruppe Psychiatrie-Betroffene beim Neuen Forum Leipzig


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